Von den missbrauchten Idealen der Revolution wollte Beethoven anders träumen
Am 7. Mai 1824 feierte Wien die Uraufführung der 9. Symphonie von Ludwig von Beethoven Zum ersten Mal erklang ihr letzter Satz. Die Wirkung dieser Vertonung von Schillers „Ode an die Freude“ war enorm. Sogar so sehr, dass der französische Komponist Claude Debussy später schrieb, es handele sich um das „Meisterwerk“, „über das am meisten Unsinn verbreitet“ werde und einen „Wust von Geschreibe“ hervorgerufen habe.
Wenn also ein musikalisch interessierter Politiker etwas zu diesem „Geschreibe“ beiträgt, so begibt er sich auf Glatteis. Doch kann kein Zweifel bestehen, dass sich in der 9. Symphonie auch politische Strömungen, Entwicklungen und Botschaften ihrer Zeit widerspiegeln, die uns noch heute eine Menge zu sagen haben.
Die politische Dimension erschließt sich besonders im Zusammenhang mit Beethovens 3. Symphonie – der Eroica. Darin feierte der Komponist die Werte der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Er wollte sie dem Revolutionsführer Napoleon widmen. Doch diese Widmung kratzte Beethoven aus dem Papier, nachdem sich dieser scheinbare Held der bürgerlichen Revolution selbst nicht nur zum Fürsten oder König, sondern sogar zum Kaiser gekrönt hatte. Denn nach der Pfeife eines Monarchen wollte Beethoven nie tanzen. Dafür war er lieber bereit, sich der chronischen Geldnot des freien Künstlers und Musikunternehmers auszusetzen, als sich in die zu seinen Lebzeiten nicht unübliche Abhängigkeit von einem adeligen Mäzen zu begeben.
Schillers Ernüchterung
Eine ähnliche Entwicklung nahm Friedrich Schiller, dessen Gedicht „An die Freude“ von 1785 die Textvorlage für den letzten Satz der 9. Symphonie bildete. Auch er fühlte sich zu den Werten der späteren Französischen Revolution hingezogen. In seiner Dichtung sehnte er sich geradezu nach der Errichtung einer utopischen Gesellschaft mit dieser Blaupause. Doch was im postrevolutionären Frankreich im Namen eben dieser Werte geschah, führte bei Schiller zu Ernüchterung.
So dichtete er später in seinem „Lied von der Glocke“: „Wo rohe Kräfte sinnlos walten“ und weiter „Freiheit und Gleichheit! hört man schallen, / Der ruhige Bürger greift zur Wehr, / Die Straßen füllen sich, die Hallen, / Und Würgerbanden zieh’n umher“. Schließlich endet das Lied mit den sehnsuchtsvollen Worten über die fertig gegossene Glocke: „Freude dieser Stadt bedeute, / Friede sei ihr erst Geläute.“
Die beiden genialen Künstler gaben einer im Bürgertum weit verbreiteten Haltung Ausdruck: Einerseits fühlte man sich von den Idealen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit weiterhin angezogen. Andererseits waren viele von der politischen Praxis, die auf die Französische Revolution folgte, einfach nur angewidert: Da war die ungehemmte Diktatur des Jakobinismus und der „terreur“, also die Schreckensherrschaft des Robespierre, dem dieser selbst an der Guillotine zum Opfer fiel.
Und die Folgen der Barbarei waren noch verheerender: Da waren die unzähligen Revolutionskriege, die in ganz Europa tobten. Und da waren die Ergebnisse des Wiener Kongresses und die Karlsbader Zensur-Beschlüsse von 1815: Auf den Sturz Napoleons folgte die Errichtung revisionistischer Regime, die die Uhren notfalls mit brutaler Unterdrückung von öffentlicher Meinung und politischer Betätigung zurückdrehen wollten.
Reform als Botschaft
Auch der Fortschritt in Wissenschaft und Kunst war Angriffspunkt der Reaktionäre. All das waren große Enttäuschungen, die auf große Hoffnung folgten. Genau in diesem Jahr 1815 notierte Beethoven seine ersten Ideen zur Vertonung von Schillers „An die Freude“. Der Gedanke dabei: Den alten Traum darf man nicht aufgeben, man muss ihn aber vielleicht anders träumen.
In der Politik erwuchs aus dieser Stimmung eine neue Strömung: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sollten sich verwirklichen – aber durch eine andere politische Praxis als Revolution, Terror oder Guillotine. In Frankreich, Spanien, Italien oder Deutschland wurde eine Bewegung immer stärker, die die Errungenschaften und Werte der Französischen Revolution durch eine Art Friedensvertrag mit den monarchischen Machthabern verwirklichen wollte: der Konstitutionalismus.
Im Zentrum dieser Denkschule stand die Absicherung von parlamentarischer Mitbestimmung, Grundrechten wie Gewerbe-, Meinungs-, und Pressefreiheit sowie rechtsstaatlichen Prinzipien durch Verfassungsdokumente. Der zeitgebundene, ja mitunter improvisierte Kompromiss war akzeptabel, solange er Frieden bewahrte und ein Stück Fortschritt mit sich brachte. Reform war das Gebot der Stunde. Diese Bewegung beschrieb der Leipziger Professor Wilhelm Traugott Krug erstmals 1823 im deutschen Sprachraum unter dem Titel „Geschichtliche Darstellung des Liberalismus“. In diesem Jahr führte Beethoven den Großteil seiner Kompositionsarbeiten für die 9. Symphonie aus und brachte sie im darauffolgenden Jahr auf die Bühne.
Die Verbindung zwischen diesen politischen Entwicklungen und dem Kunstwerk gehen über eine zeitliche Koinzidenz hinaus: Der Bezug zu „terreur“ und die Enttäuschung liegt schon beim ersten Ton-Cluster nahe. „Schreckensfanfare“ hat Richard Wagner das Ungetüm später genannt. Wenn sich aber die Passage dieser Schreckensfanfare zu Beginn des Recitativos scheinbar zu wiederholen beginnt, geschieht etwas Bahnbrechendes. In einer Symphonie, also einem Genre der reinen Instrumentalmusik, tritt ein Sänger auf.
Und noch mehr: Sein Text wirkte auf die Zeitgenossen vermutlich etwa so wie viel später einmal der V-Effekt im epischen Theater Bertolt Brechts. Denn der Bariton unterbricht das laufende Spiel der Musiker und ruft dem Orchester sinngemäß zu: „Stopp! So könnt ihr nicht weitermachen!“ Im Original: „O Freunde, nicht solche Töne!“ Man könnte auch sagen: „Bleibt mir weg mit Terror, Gewalt und Revolution!“
Dann nehmen die Dinge tatsächlich auch einen anderen Lauf. Orchester und Bariton führen die ikonische Melodie der Ode an die Freude ein. Sie setzt einen doppelten Kontrast zum Beginn des ersten Satzes. Dort klingt ein angespanntes d-Moll; hier nun ein hoffnungsfrohes D-Dur. Dort dominiert zu Beginn das Motiv einer leeren Quinte, ein klassisches Stilmittel der Ungewissheit und Unentschiedenheit; hier wird die Quinte in einfachen Sekundenschritten mit der Selbstgewissheit unbeschwerter Gassenhauer abgeschritten, um sie freudig aufzufüllen.
Später geschieht noch mehr. Denn schließlich vereinigt sich das Orchester mit einem gemischten Chor. Der schmettert die Ode an die Freude so inbrünstig, wie man es vielleicht sonst nur von Soldatengesängen kennt; etwa, wenn die Sänger ihren Zusammenhalt, ja ihre Kameradschaft, trotz der großen Risiken ihres Tuns musikalisch zum Ausdruck bringen.
Die Hymne Europas
Das ist der Teil, den man gemeinhin mit der „Ode an die Freunde“ verbindet. Das ist der Teil, der 1972 vom Europarat und 1985 von den Staats- und Regierungschefs der späteren Europäischen Union zur Hymne Europas erklärt worden ist. Das ist der Teil, den Leonard Bernstein anlässlich des Falls der Berliner Mauer 1989 in „Freiheit, schöner Götterfunken“ umdichtete. Damit folgte Bernstein einer vom berühmt-berüchtigten Turnvater Jahn in Umlauf gebrachten – und von der Musikwissenschaft mittlerweile widerlegten – Legende über den angeblich wahren Text, die besagte, dass dieser bloß aus Angst vor der Zensur „Freude“ statt „Freiheit“ lautete.
Doch so glatt ist das ganze Bild nicht: Immer wieder führen einige Passagen Instrumentalisten und Vokalisten gleichermaßen an die Grenzen ihrer Fähigkeiten. Die Partitur trieft vom Schweiß der Cellisten. Form und Verlauf sind nur schwer verstehbar oder vorhersehbar. Das führte mitunter dazu, dass der vierte Satz in der frühen Aufführungspraxis der 9. Symphonie immer wieder ausgespart worden ist. Die Tempoangabe „Presto“ entspricht ohne Weiteres 170 „beats per minute“. Das ist die Frequenz eines Herzrasens, also eines Symptoms der Freude, aber genauso einer großen Anstrengung, Angst und Aufregung. Die „Ode an die Freude“ zeichnet keine gerade Linie, auf der ein angeblicher Weltgeist stolz, unbestritten und elegant wie ein Triumphator voranschreitet. Das Leben feiert die Freude, ist aber mitunter auch anstrengend, unvorhersehbar und manchmal auch beängstigend – das spart Beethoven keinesfalls aus.
Vor diesem Hintergrund besitzt die „Ode an die Freude“ auch heute noch Aktualität. „O Freunde, nicht diese Töne, sondern lasst uns angenehmere anstimmen!“ meint nicht Weltflucht oder Rückzug ins Privatleben. Es meint auch nicht politische Narkotisierung durch Schönheit oder das süßlich-naive Versprechen politischer Ideologien, dass nach einer unangenehmen, aber kurzen Phase des Umbruchs das Paradies auf Erden der ewigen Freude einkehren werde. Es meint, sich den immer wieder auftauchen Konflikten, Problemen und Unvorhersehbarkeiten zu stellen.
Da wird kein Erlöser kommen, wie einige das Napoleon zugetraut hatten. Wer das glaubt, wird nur enttäuscht werden. Eigener Schweiß und eigene Anstrengung sind nötig, um die teils harten Prüfungen der Wirklichkeit zu bestehen. Kein US-Präsident, egal welchen Namen er trägt, kann uns von der Verantwortung erlösen, als Europäer, die wir so gern die „Ode an die Freude“ singen, selbst mehr Verantwortung für unsere Sicherheit und die Verteidigung unserer Lebensweise zu übernehmen. So ist es eben, wenn die Geschichte Europas von der Phase der „pax americana“ in die des „bellum russicum“ wechselt.
Kein Erlöser wird kommen und unsere innenpolitischen Konflikte in Harmonie verwandeln. Auch wenn einige das System China und seinen Leitbegriff der Harmonie als Wert attraktiv finden mögen: Das Social Scoring chinesischer Behörden geht weit über das hinaus, was selbst die Karlsbader Beschlüsse mit sich brachten. Das ist nicht harmonischer Gleichklang, sondern geistige Stille durch erzwungenen Opportunismus. Die Lösungsalternativen für unsere Probleme werden wir ausdiskutieren müssen, und das kann auch unharmonisch, ja muss manchmal vielleicht sogar dissonant sein.
Das ist die Kehrseite der Verantwortung, die aus Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit folgt, wenn man diese Werte ernst nimmt. Und auch wenn uns die vielen Konflikte und Debatten mühevoll, anstrengend und manchmal fruchtlos erscheinen: „terreur“, Guillotine und Revolution sind keine Option. Darin sollten wir uns alle einig sein. Darin sollten wir Menschen alle gleich denken und alle Brüder sein. Was wäre das für eine Freude!