Was wir von Max Weber heute noch lernen können
Max Weber ist einer der wichtigsten politischen Denker der deutschen Geistesgeschichte. Manche sagen, für eine Deutung der modernen Welt sei er der wichtigste. Politikwissenschaft und Soziologie betrachten ihn weltweit bis heute als einen ihrer bedeutendsten Vertreter.
Webers Überlegungen zur Problematik von Werturteilen in den Sozialwissenschaften, zur Geschichte als eines Prozesses der „Entzauberung“ der Welt, zur Bedeutung der protestantischen Ethik für den Geist des Kapitalismus oder zur „charismatischen“ Begründung von Herrschaft sind fortdauernd Anknüpfungspunkte akademischer sowie allgemeiner Debatten und Kontroversen.
Sozialisiert im Bildungsbürgertum
Der habilitierte Jurist, später Inhaber von Lehrstühlen der Nationalökonomie in Freiburg und Heidelberg, war bei rein äußerlicher Betrachtung ein fast schon klischeehafter Liberaler des 19. Jahrhunderts. Er kam aus einem protestantischen Elternhaus und wuchs in Berlin auf. Die weitverzweigte Familie war wohlhabend; das Milieu war das eines selbstbewussten unternehmerischen Besitz- und Bildungsbürgertums. Webers Vater war Reichstagsabgeordneter für die Nationalliberale Partei.
Weber selbst engagierte sich seit den 1890er-Jahren für einen auch sozialpolitisch orientierten Liberalismus. Nach dem Krieg trat er der Deutschen Demokratischen Partei bei. Bald darauf, 1920, erlag er mit 56 Jahren einer Lungenentzündung. Für viele damals junge Politiker – wie etwa für den späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss – war er eine prägende Gestalt.
So typisch das soziale Milieu war, aus dem Weber stammte, so außergewöhnlich waren seine Analysen für die Zeitgenossen – und das nicht nur, weil sie von herausragender wissenschaftlicher Qualität waren. Nicht selten lösten sie durch ihre Klarheit und ihre intellektuelle Strenge Irritationen aus. Doch das schreckte Weber nie. Besondere Bedeutung für unsere Gegenwart haben dabei sicherlich drei Mahnungen, die Weber uns mit auf den Weg gab.
Webers Sorgen vor der Bürokratie
Da ist erstens Webers Analyse der Bürokratie. Niemand zuvor hat die Ambivalenz, ja die Janusköpfigkeit dieses Phänomens so klar benannt: Da war einerseits die unabstreitbare Rationalität der Bürokratie. Eine arbeitsteilige und professionell geschulte Organisation von Spezialisten im Staat, aber auch im „rationalen Betriebskapitalismus“ großer Unternehmen, sorgte für Berechenbarkeit. Die immer weiter zunehmende funktionale Gliederung staatlicher, aber auch unternehmerischer Verwaltungsaufgaben führte zu weiterer Spezialisierung und zu Lernkurveneffekten.
Weber betonte auch den geschichtlichen Gewinn klarer und verlässlicher Regeln gegenüber Formen persönlicherer und weniger formalisierter Macht mit ihrem Willkürpotential und sprach vom modernen Beamtentum als einer integren und hoch qualifizierten geistigen Arbeiterschaft, ohne die uns furchtbare Korruption und gemeines Banausentum drohten. Andererseits sah Weber das „stahlharte Gehäuse“ der Bürokratie, in dem wir modernen Menschen leben und arbeiten. Unaufhaltsam schien ihm der Prozess der Bürokratisierung, und ihm bereitete tiefe Sorge, ob überhaupt irgendwelche Reste einer in irgendeinem Sinn individualistischen Bewegungsfreiheit zu retten seien und wie hier Demokratie und ein lebendiger, starker Parlamentarismus noch möglich blieben.
Übertragbarkeit auf aktuelle Regierungsvorhaben
Max Weber hätte deshalb den Maßnahmen der Bundesregierung zum Abbau von Bürokratie viel abgewinnen können. Denn heute trägt der Prozess der bürokratischen Rationalisierung längst Züge des Irrationalen. Die Bürokratie von fast 100.000 Einzelnormen bremst und hemmt; die Erfüllung der Pflichten und Einhaltung der Regeln bindet wertvolle Kräfte; wirtschaftliche Initiative unterbleibt. Unternehmen haben intern längst selbst eine Philosophie der Veränderung, Agilität und Bekämpfung des Silodenkens entwickelt, um die Pathologien innerbetrieblicher Bürokratie zumindest abzumildern. Die Sphäre des Staates hat hier noch viel Nachholbedarf. Das ist leichter gesagt als getan. Weber hätte nämlich darauf hingewiesen, dass es sich eben um einen neuzeitlichen Trend der modernen Staatswerdung überhaupt handelt – und man deshalb nicht glauben dürfe, hier seien leichte Erfolge zu erzielen.
Diese Früchte hängen sehr hoch – eben weil historisch gewordene Formen nicht die Dimension von Pannen haben, die an der Strecke schnell zu beheben wären. Wir können von Weber lernen, was der Gegner ist und warum er so stark wurde. Niemand hat gründlicher gefragt und gründlicher verstanden, was es im historischen Prozess der Moderne mit der Bürokratie auf sich hat. Sein Denken hat für die Freiheitsgefährdung durch Bürokratie sensibilisiert und diese Gefährdung kundig ins Visier genommen.
Webers nüchternes Politikverständnis
Zweitens irritiert manche ganz grundsätzlich Webers betont nüchternes Verständnis des Politischen. Max Weber dachte Politik vom nationalen Staat mit seiner Macht und seinen Interessen her. Er reagierte empfindlich auf jede politische Naivität und Machtvergessenheit – gerade auch seiner liberalen Weggenossen. Er verlangte dabei vom Politiker immer wieder vor allem ernste Sachlichkeit. Es ist die berühmte Trias aus seinem Vortrag „Politik als Beruf“ von 1919: „Man kann sagen, dass drei Qualitäten vornehmlich entscheidend sind für den Politiker: Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß.“ Und er fährt fort: „Leidenschaft im Sinn von Sachlichkeit: leidenschaftliche Hingabe an eine Sache“; Leidenschaft nicht im Sinne von „steriler Aufgeregtheit“.
Dieser Dienst an einer Sache brauche wiederum die Verantwortlichkeit gegenüber ebendieser Sache als entscheidenden Leitstern des Handelns, so Weber. Und dazu bedürfe es des Augenmaßes – der Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen. Oft zitiert: „Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“ Gegen ein naives und bequemes idealistisches Pathos in der Politik betonte Weber die harte Arbeit an der Sache und an ihrer Durchsetzung in der Welt, wie sie ist. „Politik wird mit dem Kopfe gemacht, nicht mit anderen Teilen des Körpers oder der Seele.“
Unterscheidung in Gesinnungs- und Verantwortungsethik
Seine Beobachtung der Politik führte Max Weber zu einer Unterscheidung, derer wir uns bis heute bedienen, wenn uns auffällt, wie heikel das Verhältnis politischer Entscheidungen zu moralischen Fragen oft ist – wie notwendig unzulänglich und damit tragisch menschliches Bemühen auch auf diesem Feld ist. Er unterschied Gesinnungsethik und Verantwortungsethik: Politisches Handeln kann gesinnungsethisch oder verantwortungsethisch orientiert sein. Nicht dass der einen Ethik jede Verantwortung und der anderen jede Gesinnung fehle – es sind für Weber Idealtypen, die in der Wirklichkeit in Mischungen auftreten.
Der eine sieht mehr auf die Reinheit der Gesinnung und der Motive beim Handeln; der andere reflektiert vor allem seine Verantwortung für die Folgen des eigenen Tuns. Man habe, so Weber, der sich klar auf die Seite einer Verantwortungsethik stellt, für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen, nicht nur für die unmittelbaren, auch für die in der weiteren Zukunft. Dabei wisse man, dass wir Menschen absolute Gerechtigkeit auf Erden nicht schaffen können.
Parallelen zu August Ludwig von Rochau
All dies atmet eine Härte und Strenge, die von manchem als Widerspruch zu Menschenfreundlichkeit oder Zuversicht empfunden wird. Aber es ist der heute hochaktuelle Geist einer Realpolitik, wie sie auch ein anderer Liberaler des 19. Jahrhunderts, wenige Jahre vor Max Webers Geburt, wirkmächtig entwickelt hat: August Ludwig von Rochau hatte nach der gescheiterten Revolution von 1848 den Begriff der „Realpolitik“ geprägt, der danach trachtete, dem Richtigen zur Stärke zu verhelfen in einer Welt, in der man eben Stärke braucht, um das Richtige gegen das Falsche durchzusetzen.
Es ging damals darum, und es geht heute wieder darum, die liberale Demokratie in der Welt, wie sie ist, voranzubringen – mithilfe der Stärke des eigenen Staates und auch der Stärke der eigenen Wirtschaft. Das können wir von Rochau und Weber lernen: Wenn das Recht keine faktische Stärke besitzt, dann leben wir faktisch in einer Welt mit dem Recht des Stärkeren.
Was das für uns bedeutet
Wir sehen uns heute in einer Lage, die uns zu nüchterner Interessenvertretung und Machtaufbau zwingt, wenn wir Errungenschaften der liberalen Demokratie und des Rechtsstaats nicht verlieren wollen. Putin, China, der Islamismus werden jedenfalls auf Schwächen des Westens nicht feinfühlig Rücksicht nehmen.
Stärke im umfassenden Sinne hat übrigens eine besondere Stärke als notwendige Bedingung: Die Weltgeschichte zeigt, dass ohne eine starke ökonomische Basis keine militärische Sicherheit erreichbar ist. Denn auch die kostet Geld. Ohne Innovationskraft wird sich die Technologie der Gegner durchsetzen – sei es auf den Weltmärkten oder dem Schlachtfeld. Wer Sicherheit will, braucht den Aufschwung einer innovationskräftigen Wirtschaft.
Es ist eine jener kühlen Definitionen Webers: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ Es ist offensichtlich, dass wir liberalen Demokratien unseren Willen zu Recht, Demokratie und Freiheit heute gegen ein bemerkbares Widerstreben in der Welt durchsetzen müssen. Dies gilt, selbst wenn wir nur für uns selbst diese Lebensweise bewahren wollen, geschweige denn wenn wir auch anderen helfen wollen, künftig so zu leben – wenn sie es in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Völker wollen.
Wir brauchen deshalb ein echtes und militärisch unterlegtes Bündnis der liberalen Demokratien gegen diese Angriffe auf alles, was uns wichtig ist. Wir müssen Kriege gemeinsam führen und gemeinsam gewinnen können, um sie möglichst erst gar nicht führen zu müssen. Nationale und europäische Macht für unsere Interessen, also für die Verteidigung von Freiheit, Demokratie und Recht einzusetzen, ohne Naivität und ohne Illusionen – das ist das, was wir heute neu lernen müssen und was wir von Max Webers politischem Realismus lernen können.
Webers rein funktionales Staatsverständnis
Drittens und zuletzt hat Webers enge Verknüpfung von Staat und Gewalt manche befremdet. Was ist denn überhaupt ein Staat? Mit dieser Frage hat sich Max Weber historisch und theoretisch intensiv befasst. Er kam zu dem Ergebnis, dass nur ein Merkmal für alle Gebilde zutrifft, die sich jemals Staat genannt haben oder nennen: Staaten beanspruchen das Monopol legitimer Gewaltanwendung erfolgreich für sich.
Das mag in den Ohren des einen oder anderen liberalen Demokraten hart klingen. Diese Definition kennt keine Werte, keine Zwecke, nur Funktionen. Aber das Monopol legitimer Gewalt für den Staat zu sichern ist in liberalen Demokratien in Wahrheit eine Grundbedingung für die Freiheit der Staatsbürger. Wenn nicht alles täuscht, spüren wir auch dies heute wieder mehr als in den vergangenen Jahrzehnten. Wir leben in Zeiten, in denen das staatliche Gewaltmonopol von allen Seiten bestritten wird. An die politisch und ideologisch vielfältige Herkunft der Gefahren werden wir in den Nachrichten nahezu täglich erinnert. Die Naivität und Machtverachtung, die wir in unseren äußeren Beziehungen überwinden müssen, können wir uns auch im Inneren nicht leisten.
Keine Weimarer Verhältnisse
Wir dürfen niemandem gestatten, mit Gewalt oder ihrer Androhung politische Macht zu entfalten, die ausschließlich in die Hand des demokratischen Souveräns mit seiner friedlichen Nutzung der gesetzlichen Verfahren gehört. Wir dürfen das niemandem gestatten – egal wie nobel das Ziel, für das zum Mittel der Gewalt gegriffen wird, auch sein mag. Jede Gruppe und jedes Teilanliegen würde sich berechtigt und ermächtigt fühlen, es auch zu versuchen. Das wäre ein Schritt in Richtung der gefürchteten Weimarer Verhältnisse mit ihren gewaltsamen Straßenschlachten, Saalschlägereien und Putschversuchen, die bei so vielen Menschen den Wunsch nach einer harten Hand ausgelöst haben, die für Ordnung sorgen solle.
Schon an diesen drei Schlaglichtern zeigt sich die Vitalität und Fruchtbarkeit des Denkens von Max Weber für unsere Zeit. Sein 160. Geburtstag ist ein guter Anlass für alle, die Verantwortung tragen, sich damit auseinanderzusetzen. Es lohnt sich nicht nur aus Gründen der Gelehrsamkeit, sondern um gedanklich gerüstet zu sein für die Aufgaben, die vor uns liegen. Noch eines können wir von ihm lernen: Trotz aller Strenge, aller Klarheit und allen Realismus verordnete er jedem seriösen Politiker die Haltung entschlossener Gelassenheit – oder in seinen Worten: die „Festigkeit des Herzens, die auch dem Scheitern aller Hoffnungen gewachsen ist, jetzt schon, sonst werden Politiker nicht imstande sein, auch nur das durchzusetzen, was heute möglich ist. Nur wer sicher ist, dass er daran nicht zerbricht, wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will, dass er all dem gegenüber Dennoch! zu sagen vermag, nur der hat den Beruf zur Politik.“